Zu Ende fühlen

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Es gibt eine Menge Gefühle, die wir regelmäßig wegschieben, unterdrücken oder mit etwas Anderem überdecken, Ablenkung oder Essen zum Beispiel. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Gefühle, die uns unangenehm sind, oder solche, die schon erahnen lassen, dass darunter noch etwas Tieferes liegt. Doch die Gefühle gehen nicht weg, sie kommen wieder – bis wir ihnen das geben, was sie auflösen kann: Aufmerksamkeit und Bewusstheit.


Emotions-Management 1.0

Viele Menschen reagieren auf unangenehme Gefühle* mit Ablenkung. Oft ist es auch gar nicht anders möglich. Im hektischen Alltag hat man nicht immer Zeit, sich auf Emotionen einzulassen, die einen plötzlich überkommen. Und das Auslassen am anderen ist auch selten eine gute Lösung, denn meist stecken wir in Projektionen fest. Das merkt man daran, wenn sich z.B. plötzlich eine unverhältnismäßig starke Wut auf eine Person richtet, obwohl die Situation gar nicht so schlimm ist (was einem meist erst im Nachhinein auffällt). In so einem Fall hat jemand unsere „Knöpfe gedrückt“, was bedeutet, dass etwas getriggert wurde, das unter der Oberfläche liegt und viel mehr mit vergangenen Erfahrungen zu tun hat, als wir oft meinen.

Beim Auftauchen solcher Emotionen liefert das Beiseiteschieben eine schnelle Lösung. Untergründig kann es aber auch ganz schön „weiterbrodeln“. Dann ärgert man sich plötzlich megamäßig über das Verschütten des Kaffees oder ein Problem mit dem PC. Besser ist es da, sich kurz zurückzuziehen und zumindest ein paar Minuten bei den Emotionen zu bleiben und dabei tief durchzuatmen. Je nach Gefühlslage kann das schon sehr hilfreich sein. Psychologisch gesehen ist es nämlich einfach nur ungesund, Gefühle herunterzuschlucken.

Immer auf der Flucht

Manche greifen schon bei den kleinsten Anzeichen aufkommender Emotionen zum Handy, schnappen sich etwas Essbares oder schauen nach, wer online ist. Männer verlassen gerne die Bühne, wenn es emotional wird, Frauen lassen sich erfahrungsgemäß eher auf ihre Emotionen ein. Hier besteht allerdings oft die Gefahr, dass sie sich darin verlieren. Da kann der genervte Kommentar des Chefs auf der Arbeit früher oder später zu einem kleineren oder größeren Depressionsanfall werden, in dessen Zentrum das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit schnell alles andere überschattet.

Beide Verhaltensweisen sind eine Flucht – sowohl die Ablenkung als auch das Sich-Gehenlassen vermeiden das eigentliche Fühlen der Emotionen. Geht man die Sache hingegen bewusst an, hilft das, die verschiedenen Facetten im Innern gefühlsmäßig erfassen, Projektionen zu erkennen, Muster zu identifizieren und – vielleicht nicht beim ersten Mal, aber mit der Zeit – die tieferen emotionalen Ursachen zu lösen. Denn der Kommentar des Chefs mag zwar daneben gewesen sein, sollte aber keine derart heftige Reaktion hervorrufen.

Bewusst mittendurch

Das bewusste Hindurchgehen durch unseren inneren „Emotions-Wald“ ist ein Weg durch die Mitte. Man erlaubt den Emotionen aufzukommen, lässt sich selbst aber nicht völlig von ihnen einnehmen. Der springende Punkt ist hier, möglichst die gesamte Zeit, während wir uns den Emotionen zuwenden, gleichzeitig mit einem Teil der eigenen Bewusstheit neutral zu beobachten, was in uns vorgeht – Körperempfindungen miteingeschlossen. Es ist dann, als ob ein Teil des Bewusstseins losgelöst vom Ansturm der Emotionen wach bleibt und wahrnimmt. Dabei sollte man sich von den Kommentaren des Kopfes nicht ablenken lassen. Lediglich Feststellungen wie „Im Hals verspüre ich eine Enge“ sind hilfreich, aber keine Bewertungen.

Bei der Vorgehensweise brauchen wir viel Konzentration und Gewahrsein. Aber das kann man zweifelsohne üben. Wer z.B. regelmäßig meditiert, wird hier wahrscheinlich weniger Schwierigkeiten haben. Für andere mag es vielleicht auch hilfreich sein, sich eine Vertrauensperson zu suchen, die in den Prozess eingeweiht wird und die uns dann durch gezielte Statusabfragen hilft, bewusst und beobachtend bei der Sache zu bleiben.

Eine sehr gut funktionierende Methode ist auch Focusing**. Als Anker, um an tiefere Emotionen zu gelangen, dienen bei diesem psychotherapeutischen Verfahren die eigenen Körperempfindungen. Jegliche Erfahrungen gehen mit bestimmten körperlichen Empfindungen einher, welche in triggernden Situationen wieder aktiviert werden. Der Körper wird beim Focusing achtsam beobachtet, sozusagen innerlich „durchgescannt“. Dabei werden dann die Stellen aufgespürt, an denen es krampft, eng, heiß, kalt oder unangenehm ist. Bleibt man bewusst bei diesen Stellen, kommen sehr schnell die dazugehörigen Emotionen an die Oberfläche.

Zu Ende fühlen

Warum nenne ich das Ganze „zu Ende fühlen“? Weil die alten Emotionsmuster, in denen wir oft festhängen, nicht aufgelöst wurden, nicht zu einem Abschluss gekommen sind. Und weil wir diese jetzt, in der Gegenwart auflösen können, wenn sie auftauchen.

Die Aufarbeitung vergangener Erlebnisse ist für die meisten Menschen wichtig. Es gibt kaum jemanden, der nicht etwas Traumatisches erlebt hat. Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet einfach „Wunde“. Je jünger wir bei einer traumatischen Erfahrung sind, desto stärker wirkt die Erfahrung auf uns. Als Erwachsene haben wir uns dann meist eine stabile Panzerung gegen Emotionen gebaut, die uns zwar widerstandsfähig, aber auch empfindungsloser gemacht hat.

Aufarbeitung bleibt in der Therapie noch vielfach auf der mentalen Ebene hängen. Man versteht, wie und warum etwas geschah, aber man fühlt es nicht. Mehr und mehr Psychologen und Therapeuten ist daher klargeworden, dass die emotionale Aufarbeitung ebenso wichtig ist. Solange die Ursachen für die Emotionen noch nicht aufgelöst sind und weiterwirken, bringt das Verstehen nur wenig.

Das innere Kind

Durch die bewusste Annahme der auftauchenden Emotionen lässt sich irgendwann gut erkennen, aus welchem Kontext in der Vergangenheit sie stammen. Beim Beobachten merken wir z.B. plötzlich, dass wir uns eigentlich wie ein hilfloses Kind fühlen anstatt wie ein Erwachsener. Erinnerungen an bestimmte Muster können auftauchen, z.B. typische Konfliktsituationen mit der Mutter oder dem Vater. Vielleicht tauchen sogar Flashbacks auf, es kann aber auch lediglich bei Gefühlen bleiben.

Waren solche heftigen Konflikte ein wiederkehrendes Geschehen, das anschließend nie aufgelöst wurde, indem es z.B. Trost oder eine positive Zuwendung gab, es stattdessen vielleicht sogar eher hieß: „Hör auf zu jammern“, ist der Grundstein für entsprechende Muster sowie die Unterdrückung von Gefühlen gelegt. Mit der Zeit führt das zu einer Ansammlung an unerlösten Gefühlen der Unsicherheit, Ohnmacht, Trauer, Wut etc. Damit diese alten Gefühlsknoten endlich aufgelöst werden können, bedarf es der Durchleuchtung und der Zuwendung.

Bewusstheit löst Blockaden

Bewusstheit hat die Qualität des Auflösens (ich kann gar nicht genau sagen, warum, aber es funktioniert). Auch wenn sich damals in der Situation niemand um uns als Kind gekümmert hat, können wir dies heute nachholen, indem wir – in unserem Bewusstsein – in das Geschehen hineingehen und in einer wohlwollenden Haltung ganz bei uns sind und bezeugen, was war.

So, wie ich es halbwegs erspüren kann, wenn ich auf „Reisen in die Vergangenheit“ gehe, ist es so: Als Kinder wirken die Dinge auf uns viel stärker. Wir sind ja im Prinzip „unbeschriebene Blätter“, ganz offen, ohne Erfahrung und Schutzmechanismen. Wenn Erwachsene dann ihre negativen Energien an Kindern ablassen, ist das eine dunkle beängstigende Wolke, fast eine Wesenheit, in die das Kind gehüllt wird. Es fühlt sich schlecht und bedroht, kann das alles aber nicht einordnen. Das Elternteil ist in dem Moment nicht bei dem Kind, so dass es sich verlassen fühlt. Wenn dann keinerlei Auflösung seitens des Elternteils geschieht, in Form von positiver Energie, scheint dieser unerlöste Gefühlszustand in einem Mittendrin-Stadium abgespeichert zu bleiben. Durch das Sich-wieder-Hineinfühlen in einen solchen Zustand – unter dem wachen Auge des Bewusstseins – können wir das Gefühl zu einem Abschluss bringen. Die Anwesenheit des gegenwärtigen (jetzt erwachsenen) Bewusstseins liefert dafür die nötige Stabilität und Stärke.

Tiefe Atmung ist heilsam

Um die Bewusstheit während eines solchen Prozesses zu stärken, ist es essentiell, tief und gleichmäßig zu atmen. Es passiert bei unangenehmen Gefühlen leicht, dass wir immer flacher atmen oder die Luft teilweise anhalten. Darauf sollte man also stets achten. Atmet aktiv, tief vom Bauch ausgehend hinauf in den gesamten Brustkorb hinein. Wer mit einer Vertrauensperson an die Sache geht, kann sie bitten, genau zu schauen, dass die Atmung gleichmäßig bleibt.

Eine gute Atemtechnik, die ich in den alten Castaneda-Büchern gefunden habe und immer wieder anwende, ist der sogenannte „Fege-Atem“. Im Zuge der „Rekapitulation“ früherer Ereignisse, wie die Bereinigung der Vergangenheit dort genannt wird, beginnt man die Atmung mit dem Kopf leicht nach rechts gerichtet, atmet mit einer Wendung des Kopfes nach links ein, kommt zur Mitte zurück und beginnt das Ganze wieder von vorne. Interessant fand ich in diesem Zusammenhang, dass es zur Bewältigung von Traumata die EMDR***-Technik gibt, bei der die Augen eines Patienten in schneller Folge von rechts nach links hin und her geleitet werden. Den Fingern des Therapeuten folgend können so Erinnerungen an ein Trauma hervorgeholt werden. Es gibt auch „Rechts-Links-Übungen“ zur Entspannung, bei denen man sich abwechselnd mit der rechten Hand auf den linken Oberschenkel und mit der linken Hand auf den rechten Oberschenkel klopft. Scheinbar werden durch diese Impulse die rechte und linke Gehirnhälfte besser verlinkt. Laut Castaneda werden mithilfe des Fege-Atems energetische Verbindungen aufgelöst.

Bewusst wahrnehmen – ohne Kommentare

Indem man sich einem Gefühl zuwendet und es annimmt, ist im Grunde der erste und wichtigste Schritt gemacht. Im zweiten Schritt folgt das Ausloten des Gefühls, das bewusste Fühlen, während ein Teil des Bewusstseins weiterhin beobachtet, so dass man nicht einfach von dem Gefühl davongetragen wird. Das Beobachten hilft auch, aufkommenden assoziativen Gedanken nicht die Oberhand zu überlassen. Denn die Gedanken sind allesamt stark eingefärbt von den Emotionen. Selbstmitleid und Ich-Bezogenheit spielen dabei immer an vorderster Front mit. Mein Rat ist daher: Glaubt nicht alles, was euer Kopf in solchen Momenten von sich gibt. Die Kommentare sind meist sehr einseitig negativ. Außerdem beginnt an dem Punkt schnell eine Umgehung des Fühlens. Indem man sich nach dem ersten Erfassen des Gefühls sagt, wie schrecklich etwas ist oder wieso das alles so sein muss etc., ist man schon ein Stück weit aus dem Fühlen raus.

Das Ganze erfordert viel Aufmerksamkeit und Ehrlichkeit vor sich selbst. Aber es lohnt sich. Es ist ein Weg, um alte Gefühls-Cluster, die sich über viele Jahre hinweg zusammengebraut haben, aufzulösen. Wenn die alten Muster nicht mehr in uns wirksam sind, erscheinen im Außen auch immer weniger Situationen, die uns triggern können. Was dann aus uns herausklingt, lässt ganz neue Frequenzen mit uns in Resonanz gehen.

Ich kann nur empfehlen, sich mit dem, was sowieso im Alltag immer wieder auftaucht, richtig auseinanderzusetzen. Es ist nicht nur befreiend, es ist auch spannend, sich Stück für Stück besser kennenzulernen.

* Ich verwende die Wörter Emotion und Gefühl hier synonym, obwohl das eigentlich nicht ganz richtig ist. Gemeint sind eher die Emotionen.

** In den 1960er Jahren von Eugene T. Gendlin, Professor für Philosophie und Psychologie an der Universität Chicago entwickelt

*** EMDR Eye Movement Desensitization and Reprocessing wurde Ende der 1980er Jahre von der amerikanischen Psychologin Francine Shapiro entwickelt und ist wissenschaftlich bestätigt

Einige Empfehlungen für die Praxis:

  • Das Buch von Michael Brown „Die Kraft gelebter Gegenwart“. Er schreibt wunderbar klar und einfach und stellt ein Programm von 10 Wochen vor, in denen man sich täglich Zeit nimmt, um negative Gefühle, zurückgehend bis in die Kindheit, zu verarbeiten. Sehr gut nachvollziehbar.
  • Der „Completion Process“ (www.thecompletionprocess.com und bei Youtube) von Teal Swan, auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Den Schatten umarmen“. Basierend auf der Regressionstherapie ist dieser Prozess etwas komplexer und widmet sich noch stärker dem inneren Kind. Nachdem eruiert wird, wann man eine auftauchende Emotion zum ersten Mal gefühlt hat, folgt man intuitiv den Gefühlen und kann mithilfe von Visualisierungen dem früheren Ich als Kind die Beachtung schenken, die es in einer Situation gebraucht hätte. Die Methode besteht aus fast 20 Schritten, aber sie ist auch sehr gründlich. Auch ihr Buch ist sehr hilfreich und auf Deutsch erschienen.
  • Das Buch „Stark im Leben, geborgen im Sein: Über den Körper zu sich selbst finden“ von Lea Stellmach, Trinity Verlag. Sie hat sich auf Körperpsychotherapie spezialisiert und geht im ersten Schritt über die Körperempfindungen. Ihre Methode bezieht energetische Grundlagen mit ein und ist auf Ganzheit ausgerichtet.
  • Auch der Autor und Psychiater Daniel Dufour hat hervorragende Bücher zu dem Thema geschrieben, z.B. „Die Heilkraft innerer Krisen: Emotionen annehmen, ausleben – und heilen“.
    Von Mike Hellwig („Radikale Erlaubnis“) gibt es ebenso interessante Bücher und Videos.

2 Anmerkung zu “Zu Ende fühlen

  1. Gina Janosch Autor des Beitrags

    Vielen Dank! Die Bücher von Safi Nidiaye finde ich auch sehr gut. Maria Sanchez werde ich mal unter die Lupe nehmen …

  2. Mia

    Ein sehr bereichernder und informativer Artikel, vielen Dank dafür! Auch über die Literaturempfehlungen freue ich mich.

    Ich empfehle außerdem die Videos/Interviews (siehe YouTube) mit Maria Sanchez (ihr Buch habe ich leider noch nicht gelesen) und unbedingt auch die Bücher von Safi Nidiaye.

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