Fischmahlzeit

Soeben verließ sie das Haus, um einen Bekannten zu besuchen. Auf der Straße lag verwehter Sand, am Rande zu winzigen Dünen gehäuft. Die Hitze glühte in ihrer vollen Mittagskraft, und niemand sonst außer dem Mädchen war unterwegs.

Zerfetzte, bleiche Sonnenschirme steckten am Wegesrand im Sand. Die Autos waren fast ausnahmelos von den unzähligen Sandstürmen, die diese Gegend mehrmals im Monat heimsuchten, bis zur letzten Schicht abgeschliffen und von innen verbrannt. Die verlassen wirkenden Häuser hatten bis auf einige wenige dieselbe kalkweiß abblätternde Streichung. Nur Kakteen schmückten hier und da ein Fenster und ließen auf häusliches Leben schließen.
Das Mädchen mit den schwarzen langen Haaren und dem breiten dunklen Gesicht hinterließ seine sanften Spuren auf dem sandigen Weg. In der rechten Hand trug sie eine Plastiktüte. Ein großer Fisch war darin. Ihre Hand schwitzte an der Stelle, wo sie den kneifenden Plastikgriff hielt.
Zwei Schwalben zogen zwitschernd einen schnellen Kreis über ihrem Kopf und flogen eifrig weiter Richtung Norden.
Bald hatte sie das Haus des ehemaligen Bäckers erreicht. Es gab schon lange kein Brot mehr. So saß der einstige Bäcker in seinem kleinen Wohnzimmer auf einem steifen Stuhl und schlief.
Sie trat durch die offene Tür und vernahm das leise Schnarchen. Im Innern des Hauses war es düster und angenehm kühl. Ein Fensterladen klapperte zitternd im Wind.
Sie setzte sich neben ihn, legte den Fisch in der Plastiktüte auf den einzigen Tisch im Raum und strich dem Schlafenden liebevoll über die sonnenverbrannten Wangen und den Schnurrbart. Allmählich erwachte der Mann. Lächelnd begrüßte er die Besucherin, während er sich gemächlich reckte. Dann entdeckte er die Plastiktüte auf dem Tisch.
‚Was hast Du mir mitgebracht, Margarita?‘, fragte er etwas verwundert.
‚Einen Fisch‘, sagte sie freudig und schaute ihn erwartungsvoll an.
‚Ach was, einen Fisch! Woher solltest Du einen Fisch haben?‘
Er drückte ihr ein Auge zu, als ob er sagen wollte, er ließe sich nicht reinlegen und ging in die Küche. Bald darauf kam er mit einigen Kakteenfrüchten in einer Schale aus Ton, einer Gabel und einem kleinen Messer ins Zimmer zurück.
Er spießte eine der grüngelben Früchte auf die Gabel und öffnete sie vorsichtig mit Hilfe des Messers in seiner anderen Hand. Dann kratzte er das kernige Fruchtfleisch aus dem stacheligen Gehäuse und gab Margarita mit den Fingern etwas davon. Sie lutschte seine Finger wie honigbeschmiert ab, einen Ausdruck von einem unschuldigen Kind in den Augen. Er grinste väterlich und nahm dann selber von der Frucht.
‚Was riecht es hier so?‘, bemerkte er mit einem Mal und legte die Stirn in zwei wellenförmig waagerechte Falten.
Sie lachte triumphierend.
‚Nein‘, sagte er, ‚das darf nicht wahr sein!‘, rief er laut.
Sein Gesicht war vor Überraschung vollkommen erstarrt.
‚Doch!‘, kicherte sie.
Einen Moment musterte er sie staunend, als sei sie zum ersten Mal in seinem Haus. Dann kam wieder der Ausdruck von Mißtrauen in seine Augen.
‚Nein! Bestimmt ist es doch nur eine alte Fischdose‘, protestierte er.
Sie schüttelte den Kopf, lächelnd, und öffnete die Plastiktüte ein wenig, so daß er hineinblinzeln konnte. Seine Augen wurden groß und sein Mund öffnete sich weit.
‚Oh‘, war alles, was er sagen konnte, ‚Margarita!‘
Dann nahm er ihr Gesicht in die Hände und küßte ihre Stirn und die Nasenspitze. Doch plötzlich hielt er inne. Er sprang auf, rannte zum Eingang und verschloß hastig die sperrangelweit geöffnete Tür der Hauses, so daß nur noch einige Sonnenstrahlen durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden kriechen konnten, die weiterhin im Winde vibrierten.
‚Nein, nein‘, flüsterte sie warnend und wollte ihn abhalten.
Doch er hielt den senkrechten Finger vor den Mund.
‚Ach, Margarita, vielleicht schaffen wir es, daß…‘ hauchte er.
Aber bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, hörte man schon ein aufgeregtes wildes Kratzen und Poltern an der Tür, daß es einem bange wurde. Margarita und der Bäcker horchten angsterfüllt. Die Geräusche wurden rasch lauter und hartnäckiger. Es schien, daß immer mehr Eindringlinge sich an der Tür zu schaffen machten.
Margarita schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper. Er blieb regungslos mit verzweifeltem Gesichtsausdruck vor dem Mädchen sitzen. Das Lärmen schwoll nun zu einem Hämmern und Reißen an. Selbst der Wind gesellte sich stürmisch dazu. Und plötzlich war die Tür schon stellenweise durchrissen von Krallen und fingerähnlichen Klauen wie ein zerfetztes Stück Tuch. In Sekundenschnelle wurde sie plötzlich mit einem heftigen Ruck aufgestoßen und in einer Flut von Sonnenlicht drang eine Unzahl von jämmerlichen, halbverwesten Kreaturen jaulend, knurrend und zähnefletschend in das Zimmer ein.
Sofort entdeckten sie den Fisch in der Tüte, zerrten ihn hinaus, bissen ihn mit ihren gierigen Mäulern in tausend Stücke, so daß dickes Blut in fülligen Tropfen auf den Steinboden spritzte. Sie rissen sich unbarmherzig um jeden Bissen des rohen Fleisches, würgten an den großen Gräten, schmatzten, geiferten und schlangen knurrend, immer wieder nach dem Gegenüber schnappend, jedes noch so winzige Stückchen Fleisch hinunter.
Und plötzlich, so schnell wie sie in das Haus eingebrochen waren, verschwanden sie wieder ins Nichts, der Fisch verteilt zu unzähligen Portionen in ihren Mägen. Eine Staubwolke hing noch im Türrahmen. Die Fensterläden vibrierten nicht mehr.

© Gina Janosch