African Dream

«Puh, ist das heiß», stöhnt David und wischt sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn.

Die Sonne versengt unbarmherzig unsere Haut. Vor, hinter, neben uns erstreckt sich das vermeintliche Nichts ins Unendliche: Sand, Sand, Sand und in der Ferne das Flirren verschwimmender Bilder. Schutzlos stapfen wir durch das Geriesel, sinken ein, stolpern, stehen wieder auf. Wir sind völlig erschöpft, obwohl wir scheinbar gerade eben erst auf diese karge wüstenhafte Ebene geworfen worden sind, zumindest ist eine Erinnerung an eine Zeit vorher in diesen Gefilden nicht vorhanden.

Toni kratzt sich am Kopf und scheint zu überlegen, in welche Richtung wir müssen. Bevor sie sich entschließen kann, sehen wir plötzlich nicht weit von uns eine Siedlung, Anzeichen von Menschen und Tieren. Wir steuern darauf zu, aber nach etlichen gummiartigen, immer schwerer zu vollziehenden Schritten, scheint das Bild nicht näher gerückt zu sein. Wir schleppen uns mühsam vorwärts, immer einen Schritt zu weit von unserem Ziel entfernt. Stunden scheinen so zu vergehen.

Irgendwann bleibt Toni stehen und schaut uns kurz an. Dann holt sie tief Luft und stößt einen unheimlichen hohen Schrei aus, einen Schrei, der meine Nackenhaare sträubt und dann über die Kopfhaut zur Stirn läuft. Übergangslos befinden wir uns mitten in einem Dorf, das vielleicht aus zwei Dutzend runden, kleinen Lehmhütten besteht. Ihre Dächer sind mit Stroh gedeckt und die meisten besitzen so etwas wie einen kleinen umzäunten Hof, auf dem einige Hühner scharren und hier und da eine Pflanze in einem Blechkübel wächst. Die Häuser haben keine Fenster und der Eingang ist meist offen oder mit einem Stück Stoff verhangen. Im Innern einer Hütte sieht man in der Mitte des Raumes einen dreifüßigen kniehohen Tisch oder vielleicht Altar. Verschiedenste Utensilien sind darauf ausgebreitet und aus einem kleinen Gefäß steigt dichter Qualm auf.

Dünne Ziegen laufen durch die engen sandigen Gässchen, die zwischen den Behausungen entlangführen. Dunkelhäutige Kinder fahren auf immensen Fahrrädern hintereinander her. Ihre bunten Hemden flattern aufgeregt im Fahrtwind. Das ganze Dorf hat im leicht schräg einfallenden Sonnenlicht eine warme goldene Farbe angenommen, die alles zum Glühen bringt. Die Bauten sind so glatt, dass man mit den Händen darüber streichen will wie über den Rücken weicher ruhiger Tiere.

Palmen mit riesigen Wedeln spenden am Hauptplatz des Dorfes Schatten, wo sich Erwachsene tummeln und heftig gestikulierend miteinander reden. Eine Frau sitzt dazwischen auf einem Stuhl und lässt sich die Haare von einem alten Mann schneiden. Einer der Dabeistehenden, ein junger Mann, nur mit einer hellen kurzen Hose bekleidet, entdeckt uns, und plötzlich springen alle auf und kommen auf uns zu gerannt. Sie umkreisen uns neugierig, während die Kinder unbeeindruckt weiter auf ihren Rädern durch die Gassen sausen.
«Da seid ihr ja», ruft die Frau mit halbgeschnittenem Haar und taxiert uns beinahe abschätzig, als sei sie von unserem Aussehen enttäuscht. Die anderen blicken ähnlich auf uns herab.
«Die sind ja weiß», nörgelt ein Mann mit Schnurrbart in einem bunten Kleid. Die anderen lachen, weil er es so spät bemerkt.
«Du Dummkopf», neckt ihn eine junge, schöne Frau mit feinen geflochtenen Zöpfen. Sie macht einen Flickflack zur Seite, und die anderen laufen einer nach dem anderen zur selben Seite weg. Die Fläche vor uns wird dabei ganz leer. Ein kleiner Junge auf einem Fahrrad durchschneidet den Kreis und bremst in der Mitte scharf ab.
«Willkommen in der Wirklichkeit», schreit er und wirft die Arme zur Seite, wobei sein Fahrrad umkippt. Er hebt es lachend auf und fährt davon.
Die Frau mit den Zöpfen tanzt in den Kreis hinein. Sie beginnt ein Lied zu singen. Nach einer Weile kann ich die folgenden Strophen verstehen:

Kriege, Kriege, Kriege
klauen unsere Seelen
klauen uns die Hoffnung
auf ein wahres Leben

Worte, Worte, Worte
rauben uns die Zeit
spiegeln fremde Bilder
Ping Pong Spiel im Kopf

Das Geheimnis, das Geheimnis
ist unendlich, endlich schön
wären wir nur immer
wie die Tiere still

Sie singt wunderschön, zart und doch kraftvoll, so anmutig, dass ich einen Moment alles um mich herum vergesse. Die Melodie ist melancholisch und heiter zugleich. Und noch ein ganz anderes Gefühl ergreift zunehmend von mir Besitz: Ich werde von einer anwachsenden Euphorie durchflutet, als habe mein Körper einer überschwenglichen Massenveranstaltung beigewohnt. Begeistert klatsche ich und auch Toni und David Beifall. Die Sängerin verbeugt sich und tritt von der Bühne, um dem älteren Herrn, der eben noch der Frau das Haar geschnitten hat, die Manege zu überlassen.

Er strahlt uns an und lacht. Dann schneidet er mit seiner Schere in der leeren Luft herum. Erst erscheint diese Vorführung nur unsinnig, doch mit der Zeit kann man erkennen, wie sich unter seinen Schnitten eine Form herauszubilden beginnt. Der Umriss scheint eine menschliche Silhouette zu werden. Diese kann man eigentlich gar nicht richtig sehen. Durchsichtig, wie sie ist, nimmt man sie nur wahr, als sie sich bewegt. Als der Mann zu Ende geschnitten hat, beginnt die Figur zackig und ungraziös im Kreis umher zu tanzen.

Bald tanzen die Figur und der Mann Seite an Seite. Dabei wird deutlich, dass der Umriss genau über die Form des Friseurs passt. Irgendwann verdeckt die Figur den Mann und lässt ihn vollends verschwinden. Der Platz vor uns ist wieder leer. Die Leute warten ungeduldig. Erst als wir erneut Beifall klatschen, sind sie zufrieden, und der Nächste betritt die Bühne.

Es ist ein schüchterner Junge von ungefähr sechzehn Jahren. Seine Beine und Arme sind lang und dünn. Sein Gesicht ist noch sehr kindlich für seinen in die Höhe geschossenen Körper. Er versteckt den Mund hinter der Hand, wenn er lacht.

«Hallo Toni», wispert er, und Toni erwidert seinen Gruß.
Sie nennt den Jungen Boga.
«Hast du alles getan, was wir dir aufgetragen haben?», will Boga wissen und senkt dabei unschuldig den Blick zum Boden.
Toni bejaht.
«Hallo, spricht Boga mich plötzlich an und bringt mich damit ziemlich aus der Fassung.
«Kennst du mich?» frage ich verwundert, und die Leute um uns herum beginnen zu lachen. Die Frau mit der halben Frisur zwinkert mir sogar freundschaftlich zu.
Boga kommt näher und begutachtet jetzt David. Mit unbeholfenen Bewegungen zupft er an seinen Klamotten und Haaren.
«Das ist also der Neue», meint er leicht kichernd.
Toni grinst und murmelt, dass sie aber auch alles im Voraus wissen würden. Die Versammelten lachen nun noch ausgelassener, und das Weiß ihrer Augen strahlt blendend. Fast magisch werde ich in die Augen der Frau gezogen, die mir immer wieder zuzwinkert. Irgendwann bin ich so nah bei ihr, dass ich glaube, sie zu sein. Ich sehe mich selbst plötzlich vorne stehen in der Nähe des Jungen und bekomme einen kurzen Schreck.

Ein Impuls, zum Himmel zu schauen, erfasst mich. Ich erblicke einen hellen Fleck, der langsam herabtrudelt. Es scheint ein Stück Papier zu sein. Unwirklich langsam schwebt dieses eine Weile auf gleicher Höhe, um unerwartet ein wenig hinabzugleiten und dann wieder länger auf einer Ebene zu bleiben, bis es zu einem erneuten kurzen Abfallen ansetzt. Bald erkenne ich, dass es ein Brief ist. Ich stehe plötzlich wieder an meiner eigenen Stelle – als ich – und der Brief fällt auf meinen Kopf und von da aus auf den Boden.
«Der ist für euch», bemerkt Boga und zeigt demonstrativ auf den weißen Umschlag, «es ist eure einzige Chance, euer Schicksal vielleicht doch noch zu wenden.»
Ich hebe das Schriftstück auf und Boga nickt zustimmend und bittet mich, es zu lesen. Auf dem Umschlag ist als Absender meine Adresse zu erkennen. Unzusammenhängende Bilder kommen mir in den Sinn. Ich kann sie nicht einordnen.
Boga dreht sich zu den anderen um, als wisse er nichts mehr zu sagen. Ein kleines Mädchen flüstert ihm etwas zu wie eine Souffleuse. Darauf macht Boga eine Bewegung mit dem Kopf, als falle ihm noch etwas ein, und er spricht feierlich:
«Tragt unseren Mythos hinaus in die Welt.
Lebt ihn dort auf eurer Seite,
und wir werden auf euch warten,
so lange es auch dauern mag,
bis ihr seht,
wie kostbar Leben ist.»
Stürmisch rennt die ganze Gemeinschaft auf uns zu und umarmt uns, einer nach dem anderen. Sie beeilen sich dabei, denn schon beginnen wir uns aufzulösen, und sie wollen alle noch einmal Lebewohl sagen.

«Puh, ist das heiß», stöhnt David und wischt sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn.
Die Sonne versengt unbarmherzig unsere Haut. Vor, hinter, neben uns erstreckt sich das vermeintliche Nichts ins Unendliche: Sand, Sand, Sand und in der Ferne das Flirren verschwimmender Bilder. Erschöpft stapfen wir voran, immer geradeaus.
Als ich meinen letzten Schluck Wasser trinke, fühle ich etwas Hartes in meiner Hand. Ich öffne sie und erblicke einen roten Stein mit weißen Adern, die ein schönes Muster bilden. Ich halte den Stein vor die Sonne. Er verdeckt sie genau, lässt nur noch ein paar dünne Fäden vom Strahlen am Rand entweichen. Sein Schatten ist so erfrischend, dass ich den Stein dort an der Stelle lasse, damit wir in seinem kühlen Schatten weiterwandern können.

© Gina Janosch