Ein Kubaner

Eine alte Kirche steht an der Ecke der Straße zu seinem Haus. Sie wird von der Sonne gebleicht. Weiter südwärts zieht sich die Marktstraße durch niedrige Häuserreihen, wo überall Farbe abblättert und im Lüftchen der Freiheit entgegen atmet.

Er steigt auf sein Fahrrad und radelt zwischen den geschäftigen Menschentrauben in der Marktstraße hindurch. Immer wieder muß er klingeln und anhalten, bis ihn die trödelnden, gesprächigen Frauen bemerken und zur Seite gehen. Seine Füße paddeln einige Schritte auf der unebenen Straße, dann tritt er wieder eifrig in die Pedalen – schwerlich kann er sich gelassen und freundlich zeigen. Seine Ungeduld treibt ihm den Schweiß aus den Poren.


Zum Ende der Marktstraße hin biegt er in eine enge Gasse ein. Niemand hindert ihn dort an der Durchfahrt, und er tritt mit voller Kraft in die Pedalen und genießt den kühlenden Fahrtwind. Am Ende mündet der Weg in die Plaza del Sol. Er hält an und lehnt sein Fahrrad an eine Laternenstange.


In der Mitte der Plaza liegt eine kleine, grüne Insel, flach umzäunt und unberührt. „Betreten verboten“, steht auf einem rostigen Schild, das auf einem Bein im Rasen steckt.
Er überschreitet den flachen Drahtzaun und legt sich auf den gelblichkargen Rasen in die Sonne. Seine Arme verschränkt hinter dem Kopf blinzelt er empor. Die unablässig um ihn herum kreisenden Autos und das vielfache Hupen scheint er nicht zu hören.
Aufgeschreckte Tauben erheben sich von einem gegenüber liegenden Dach, um kurz darauf am Rande seiner Insel zu landen. Eine der Tauben kommt näher an ihn heran als die anderen. Ihre runden Augen betrachten ihn; er kann etwas Weißes darin erkennen, als plötzlich der ganze Schwarm aufwirbelt, in wildem, stauben Flügelgetrappel, und zurück zum Dach fliegt.


Ein Landstreicher ist aufgetaucht und streift an der grünen Insel vorbei. Er schüttelt den Kopf und zeigt unverständlich lallend auf das Schild an der Umzäunung. Dann macht er eine ganze Runde um die Insel und bleibt unvermittelt vor dem Liegenden stehen. Dessen lange Beine sind, eins über das andere gelegt, auf den Störenfried gerichtet. Wieder stößt dieser unverständlich trunkene Laute aus, zeigt auf das Schild und macht anschließend ein übertrieben böses Gesicht.


Der junge Mann hat sich auf seine Ellbogen gestützt und beginnt im Angesicht der Grimasse des zerlumpten Mannes zu lachen. Er lacht und aus seinem Mund blitzen die Sonnestrahlen zurück. Der Bettler fühlt sich herausgefordert und scheint mit sich zu ringen, ob er die Umzäunung der Insel überschreiten soll. Er hebt ein Bein, schwankt aber und zieht es schnell wieder zurück. Der Beobachtende hat sich von seinem Lachen erholt, lächelt nun nachdenklich und versinkt in Gedanken.


Sein Leben lang hat er in seinen Träumen gelebt, mit den Bäumen gesprochen und die Welt um sich herum vergessen – und nun das! Sollte er sich des Bettlers annehmen, ihm über den Zaun helfen? Würde dieser ihn nicht weiterhin angreifen in seiner Manie der Kleinlichkeit?


Die beiden starren sich an. Just in diesem Moment blendet ihn etwas. Er hält die Hand vor die Augen. Eine Weile sieht er nur grelles Weiß. Dann erkennt er ein kleines Mädchen am Eigang zu der Gasse, aus der er gekommen ist. Es blendet ihn mit einem Spiegel voll brechender Sonnenstrahlen.


Als seine Augen wieder freigegeben werden, ist der Bettler verschwunden. Ein Plastikfetzen liegt auf dem Rasen am Rande der Insel. Er schaut über den Rand hinaus, auf die gegenüberliegende Straßenseite, an der alten, bröckelnden Häuserfassade hinauf, zum Dach, den Tauben und in die Sonne.


© Gina Janosch

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