Meine neue Erzählung „Der Traum der Eule“
In dieser Erzählung geht es um eine Eule, die wunderschöne Geheimnisse entdeckt, aber auch mit großem Verlust umgehen muss. Wundersam mysteriöse, aber auch schreckliche Dinge geschehen in ihrer kleinen großen Welt der Bäume und Lüfte. Im Traum enthüllt sich ihr eine ganz neue Dimension – bis über Leben und Tod hinaus. Ola muss durch Verwirrung und Trauer gehen, doch am Ende ist sie eine wahrhaft weise Eule geworden.
Lest hier einen Ausschnitt der Erzählung von Ola:

I
Hoch über der Stadt auf einer rundlichen Bergkuppe steht eine alte verfallene Burg. Man sagt, sie gehörte einst den Gründern dieser Stadt. Aber jetzt gehört sie nur noch den Sträuchern und Bäumen, die das Gemäuer in den vielen Jahren erobert haben. Und natürlich den Tieren, die sich zwischen, unter, über, neben den Steinen der verwitternden Mauern ein Zuhause eingerichtet haben.
Direkt neben der Burg steht eine uralte Buche. Sie ist so alt wie die Burg selbst. Sie hat alles miterlebt, was auf diesem Berg geschehen ist. All die Jahre hat sie dort gestanden und bezeugt, wie die Geschichten um die Burg ihren Lauf nahmen. Ganz langsam ist sie dabei gewachsen und letztendlich zu einer stattlichen Riesin geworden.
Wind, Stürme, Kanonenkugeln und Menschenhände konnten ihr nichts anhaben. Nur der eine, ihr größter Feind, hatte sie vor vielen Jahren so getroffen, dass ihr Stamm gespalten wurde und seitdem zwei Buchen aus einer Wurzel zu wachsen scheinen: der Blitz.
Aber das ist lange her, und der Blitz hat die Buche danach nie mehr getroffen, obwohl er in der Zwischenzeit etliche Male um sie herum geschwirrt und gezuckt ist und ihr Angst und Schrecken eingejagt hat.
Weit oben in der Buche war damals durch den sengenden Strahl des Blitzes ein Hohlraum in dem dicken Holz des Stammes entstanden. Dieser Hohlraum ist heute so geräumig, dass gerade ein größerer Vogel darin Platz finden kann … eine Eule etwa. Und genau eine solche hat sich seit einigen Jahren in dieser Baumhöhle ein Heim geschaffen.
Ihr Zuhause ist einfach, aber gemütlich und kuschelig warm, denn meistens schläft die Eule in ihrer Höhle – und Schlafen, das tut sie überwiegend bei Tage. Nachts hingegen ist sie hellwach und beginnt ihren Streifzug durch den Wald, der sich über die bergige Landschaft erstreckt, soweit das Auge reicht. Dann jagt sie Beute. Am liebsten Mäuse. Auch Blindschleichen mag sie sehr gerne.
Ab und zu knabbert sie auch einfach nur an Tannenzapfen. Sie weiß selber nicht, warum, und es ist auch ein ganz eulenuntypisches Essverhalten. Aber irgendwie braucht die Eule manchmal etwas zu knabbern, ob nun aus Langeweile oder Aufregung, das weiß keiner so genau.
Kaum jemand hat die Eule jemals zu Gesicht bekommen. Sie ist so geschickt im Stillsein und ihr Flug ist so lautlos, dass sie immer übersehen wird, von Mensch und Tier.
Einmal war ein kleines Mädchen mit seinem Vater zu der Burg heraufgekommen, um die Ruine zu besichtigen. Das Mädchen streifte ein wenig umher und blieb schließlich bei der alten Buche stehen. Langsam glitt sein Blick über die unendlichen Baumkronen. In fast allen Richtungen war nur ein unendliches Meer aus Baumkronen zu sehen. Lediglich zum Westen hin, wo das Tal lag, da vereinzelten sich die Bäume, um dem Städtchen Platz zu machen, das sich eng an den kleinen Fluss schmiegte, der aus den umliegenden Bergen kam.
Das Mädchen ließ seinen Blick ziellos über die grüne Landschaft wandern.
Plötzlich war es ihm, als hörte es eine leise Stimme ganz in seiner Nähe. Einen Moment lauschte es angespannt. Es klang, als käme die Stimme förmlich aus der Krone der alten Buche, ein Klang wie ein leises Summen oder Flüstern. Erstaunt suchte das Mädchen zwischen den Blättern, die leicht im Wind schwirrten, nach der Ursache des Geräusches. Doch da war nichts. Da war nur der säuselnde Wind und die tanzenden Buchenblätter.
Als das Mädchen seinen Blick wieder senkte, sah es gerade noch rechtzeitig, wie ein großer Vogel zum Flug ansetzte und auf weiten Schwingen lautlos in den Wald glitt. Es war die Eule gewesen, die in der Buche wohnte.
„Ola, Ola!“, rief das Mädchen aufgeregt und der Vater rannte herbei.
Er schaute in die Richtung, in die die Kleine zeigte und erhaschte noch einen kurzen Blick der Eule. Er lächelte – einerseits, weil sein Kind tatsächlich das Tier erkannt, aber andererseits den Namen desselben nicht richtig ausgesprochen hatte.
„Eule“, sprach er korrigierend.
Sein Töchterchen schaute ihn kurz an und wand sich geschickt aus seinem Griff um ihre Schultern. Es wollte die Eule noch einmal sehen. Eifrig schaute die Kleine über die Baumwipfel. Aber alles war reglos. Die Eule war bereits im Dickicht des Waldes verschwunden.
Seit diesem Tag heißt die Eule, die in der alten Buche neben der Burg lebt, Ola.
Ola fliegt Nacht für Nacht durch den Wald und sie kennt jedes Fleckchen Erde in ihrem Revier. Eher selten begegnen ihr andere Eulen, und wenn doch, dann konnte Ola sie bis jetzt immer erfolgreich ihres Reiches verweisen. Viele, viele Jahre lebt Ola schon dort, und nie ist ihr etwas so Seltsames und so etwas Schlimmes passiert wie in jenem Jahr, als … ja, lasst es mich der Reihe nach erzählen.
II
Eines Abends in der Dämmerung, als Ola gerade ein Auge öffnete und mit dem anderen noch einen Traum verfolgte, da vernahm sie plötzlich ein Singen. Sie lauschte erst halbherzig. Doch als das Singen nicht verklang, lauschte sie genauer und öffnete auch ihr zweites Auge.
Groß und rund strahlten ihre gelblichen Eulenaugen hinaus aus der Baumhöhle ins Dämmerlicht, während ihr Kopf leicht hin und her wackelte, um auszumachen, aus welcher Richtung die Melodie kam. Sie konnte es jedoch nicht genau feststellen. Und sie wunderte sich darüber, da ihr Gehör eigentlich außerordentlich gut ist.
Leicht verwirrt tippelte sie aus ihrer Höhle auf einen Ast und lauschte wieder. Das Singen war immer noch zu hören. Es klang hier draußen noch lauter und schöner. Und da fiel es der Eule erst auf: Die Musik war wunderschön, geradezu bezaubernd. Sie schien so viele Klänge und Nuancen aufzuweisen, als seien etliche Wesen an der Erzeugung der Melodie beteiligt. Und doch war die Eule sich sicher, dass dies alles aus einer einzigen Quelle kam.
Dann ging Ola plötzlich noch etwas auf. Wie ein Lichtblitz schoss ihr die Erkenntnis ins Bewusstsein: Sie kannte diese Musik. Sie kannte sie so gut, dass es ihr vorkam, sie kenne sie schon ewig, ja, in- und auswendig.
Vollkommen verwirrt stieß Ola einen leicht entnervten Eulenschrei aus. Ihr Ruf hallte von irgendwo her wider und verstummte unbeantwortet. Die Musik war immer noch da. Unentschlossen saß Ola auf ihrem Ast und wusste nicht, ob sie nun zur allnächtlichen Jagd aufbrechen oder weiter versuchen sollte, das Rätsel des Singens um sie herum zu lösen. Da sie großen Hunger hatte, entschied sie sich für Ersteres.
So flog sie in die schwarze Nacht hinaus und nahm ihre Lieblingsroute zu der alten Eiche, die genau gegenüber auf einer Bergkuppe thronte wie ein Wächter der Gegend.
Die Eiche war ebenfalls sehr alt, bestimmt so alt wie die Buche. Und auch sie war schon einmal vom Blitz getroffen worden. Aber ihr Stamm war dabei heil geblieben und zu einem außerordentlich stattlichen Umfang herangewachsen. Es war eher in ihrem Kronenbereich, dass man den ehemaligen Schaden eines Einschlags noch erkennen konnte. Dort war eine tiefe Einbuchtung – wie ein fehlender Zacken in einer Krone – in dem sonst ebenmäßigen Blätterdach des Baumes entstanden.
Als Ola bei der alten Eiche angelangt war, ließ sie sich kurz darauf nieder. Ihr Blick war nun auf ihre heimatliche Buche gegenüber neben der Bergruine gerichtet. Sonst war sie an diesem Punkt ihrer nächtlichen Streifzüge schon längst mit dem Erspähen von Beutetieren beschäftigt. Aber dieses Mal schaute Ola lange hinüber. Sie musste an das Singen denken. Fast erinnerte sie sich noch an die Melodie. Doch dann verblasste die Erinnerung und sie betrachtete nur noch die alte Buche.
Sie merkte, dass sie diesen Baum ganz schön gern hatte. Bei all der Vielfalt und Vielzahl der Bäume wandte sich ihr Blick doch immer wieder dorthin, wenn sie auf Streifzügen war. Die Buche war stets Orientierungspunkt und Richtungsweiser für Ola. Und wenn sie den Baum einmal nicht im Blick hatte, dann trug sie doch immer ein Bild von ihm in ihrem Innern, als könne sie seine Koordinaten fühlen, wo immer sie war.
Eine Weile saß Ola noch in der Eiche und freute sich still. Dann, als der Hunger größer wurde, machte sie sich endlich auf die Jagd.
Beim Fortfliegen war es ihr einen kurzen Moment, als hörte sie das Singen ganz deutlich im Umkreis der alten Eiche. Doch nun wollte Ola sich nicht mehr darum kümmern. Ihr Instinkt hatte ganz Besitz von ihr ergriffen und ihr ganzes Sein war nun auf die Jagd ausgerichtet.
III
Am nächsten Abend, als Ola in ihrer Höhle erwachte, war es draußen recht stürmisch. Der ganze Wald war ein wogendes Meer aus Blätterwerk. Der Wind pfiff aus tausend Ecken und Ritzen. Ola beschloss, zu Hause zu bleiben und weiterzuschlafen. Sie hatte am Vorabend genügend Beute gejagt und war nicht hungrig. Die alte Buche wiegte sie gemächlich in erneuten Schlaf und Ola begann zu träumen.
Anfangs sah sie eine Maus, die über eine verschneite Wiese lief. Dann veränderte sich die Szenerie und sie sah einen Fuchs in seinem Bau verschwinden. Ola flog weit hinauf, und übergangslos befand sie sich plötzlich über den Wolken.
Sie flog so hoch, wie sie noch nie geflogen war. Der Himmel war hier heller und es war kühl. Aber es gefiel Ola sehr, so weit oben zu sein. Sie musste kaum ihre Flügel schlagen. Irgendwie wurde sie hier mehr von der Luft getragen als üblicherweise. Fast hatte sie das Gefühl, dass sie schwebe.
Sie kam an einem Jungen vorbei, der auf einer Wolke saß. Er lächelte sie an und rief:
„Hallo Ola!“
Verdutzt starrte sie den Menschen an. Woher kannte er sie? Der Junge lachte lauthals und sagte:
„Komm, ich zeig dir was! Hab keine Angst!“
Ola beobachtete den Jungen mit den dunklen Haaren, die im Wind wirbelten noch einen Augenblick, während er geduldig wartete. Dann fasste sie sich ein Herz und ließ sich vorsichtig am Rande seiner Wolke nieder.
Eine Weile beäugten sich die beiden wieder. Doch schon nach kurzer Zeit lachten und alberten sie herum. Gemeinsam segelten sie auf der Wolke weiter und fühlten sich bald wie alte Freunde.
Nach geraumer Zeit, in der Ola beinahe merkte, dass sie irgendwo ganz weit entfernt schlief, kamen sie an ein großes Fenster. Das Fenster war einfach mitten in den Himmel gesetzt, als habe jemand die Idee für einen Hausbau schnell wieder fallen gelassen. Man konnte nicht sehen, was sich dahinter befand, da blaue Vorhänge hinter den Scheiben zugezogen waren.
Einen Moment starrten die beiden Himmelssegler auf den dunklen Stoff. Ola verspürte ein wenig Unbehagen. Nur ein winziger Spalt war zwischen den Vorhängen sichtbar. Hauchdünne Lichtstrahlen drangen hindurch. Mit einem Mal beugte der Junge sich entschlossen vor, öffnete das Fenster und lotste die Wolke wagemutig hindurch.
Für einen Moment schwankte und schlidderte das himmlische Vehikel gefährlich. Dann wurde es etwas zusammengedrückt, samt Ola und dem Jungen, und sie verschwanden von der einen Seite, um unbeschadet wieder auf der anderen Seite herauszukommen.
Der Anblick, der sich ihnen jetzt bot, war atemberaubend. Hier gab es, in großzügigen Abständen angelegt, seltsam geformte Skulpturen und Bauten aus weißem Stein. Alles war rundlich gestaltet, es gab kaum Ecken oder gerade Linien, und die Formen der Verzierungen und Umrandungen waren schier unerschöpflich und mannigfaltig.
Zwischen den Gebäuden lagen weitläufige üppige Gärten, in denen hohe prachtvolle Bäume standen. Vereinzelt sah man Türme, die sich hier und da in das Ganze einfügten. Diese hatten scheinbar riesige Blumenknospen als Kuppeln, manche geöffnet, manche geschlossen. Kunstvolle Girlanden rankten sich dicht um die Bauwerke.
Ola erkannte von der Wolke aus, dass die ganzen Werke und Bauten in einem großen Bogen angeordnet waren. Von oben sah alles wie ein harmonisches abstraktes Gemälde aus, das jedoch im absoluten weißen Nichts lag. Weit und breit war sonst überhaupt nichts um diese Stadt herum zu sehen. Trotzdem machte dies der Eule keine Sorge. Alles schien genau so zu sein, wie es sein sollte.
(…)