Unterscheidungsvermögen

Zitronen, eine davon pink

Früher war ich immer etwas verwirrt bei dem Begriff „Unterscheidungsvermögen“. Ich konnte nicht so richtig was damit anfangen. Inzwischen hat sich das geändert. Für mich bedeutet es, dass man Details wahrnimmt, Begebenheiten im Kontext sieht und sich selbst beobachten kann. 


Zwei gleich erscheinende Szenarien können in anderem Kontext ganz unterschiedliche Inhalte und Wirkungen haben. Aus dem Grund sollte man vorsichtig sein mit Überzeugungen. Nur, weil einmal ein unhöflicher Opa mit gezwirbeltem Schnurrbart grundlos ärgerlich mit dem Spazierstock auf einen losgegangen ist, heißt das nicht, dass alle Opas mit gezwirbeltem Schnurrbart aggressiv sind.

Damit einem diese Erkenntnis irgendwann kommt, braucht man vor allem Erfahrungen. Aufgrund der verschiedenen Erfahrungen, die man macht, wird einem irgendwann klar, dass z.B. Menschen sehr unterschiedlich sind oder in unterschiedlichen Situationen anders agieren. Das sind so die ersten Lektionen in Sachen Unterscheidungsvermögen.

Unterscheidungsvermögen erfordert manchmal eine gewisse Mühe unsererseits. Wir müssen uns möglichst alle Perspektiven zu einer Situation anschauen, Details beachten, in Relation zueinander setzen und uns in andere Menschen hineinversetzen können, um unser Unterscheidungsvermögen zu schulen. Das benötigt Zeit, Empathie und Bewusstheit. Aber nur dann können wir vielleicht ansatzweise die ewig komplexen Dinge der Welt und Persönlichkeitsstrukturen der Menschen ein wenig besser verstehen.

Reflexhaft Kommentieren

Das Kommentieren, das in unserer digitalen Kultur inzwischen so wichtig ist wie Nachrichten selbst, ist für mich eher ein Anzeichen für wenig Unterscheidungsvermögen. Die meisten Kommentare klingen zumindest so, als würden die Leute voreilig und kurzsichtig drauflos schreiben, was sie immer so von sich geben. Dabei wird oft vergessen, was bestimmte Worte beim Gegenüber auslösen können.

Es kommt eben darauf an, von wem, vor welchem Hintergrund, in welcher Situation und Laune Kommentare ausgesprochen werden. Und das kann man übers Internet z.B. in einem Forum nicht sehen. Daher ist es in dem Medium eigentlich noch wichtiger, zu differenzieren und das Gesamtbild im Auge zu behalten, wenn man etwas zu einem Thema beisteuern will, womit andere was anfangen können – außer sich zu ärgern.

Es setzt voraus, dass man den anderen verstehen will. Wenn man sich auf sein Gegenüber einlässt, ohne sich selbst ständig in den Vordergrund zu rücken, erkennt man Feinheiten und neue Facetten, die man sonst übersieht. So kann ein echter Austausch, ein Miteinander stattfinden, das womöglich beiden Seiten eine gewisse Erweiterung des Horizonts ermöglicht.

Kommunikations-Übung

Eine gute Kommunikations-Übung – ob online oder real – ist, bestimmte Ideen, die man reaktiv direkt abwehren will, erst einmal unkommentiert im Kopf stehenzulassen. Man kann die eigene Reaktivität beobachten, ohne dem aufkommenden Gedanken sofort zu folgen. In einem weiteren Schritt kann man versuchen, das Motiv hinter dem Reflex zu erkennen. Was war der emotionale Auslöser für die Reaktion? Gab es schon ähnliche Situationen?

Sich selbst auf den Zahn zu fühlen, kann hier sehr aufschlussreich sein. Bewertungen sind schnell geschehen. Das heißt aber nicht, dass sie stimmen. Sie sind meist nur ein Spiegel der eigenen Überzeugungen, die man oft seit Jahren „hat“, aber gar nicht unbedingt aus vollstem Herzen vertritt. Innehalten, beobachten und aufkommende Gedanken einfach mal unkommentiert lassen, öffnet einen Raum, in dem Staunen wieder möglich wird. Plötzlich kann man vieles in ganz anderem Licht sehen.

Unterscheidungsvermögen im Buddhismus

In der buddhistischen Praxis gilt Unterscheidungsvermögen als Tugend. Laut Patanjali sollte man „Viveka“, wie das Unterscheidungsvermögen genannt wird, kultivieren. In letzter Konsequenz wird so vor allem der Unterschied zwischen Selbst und Nicht-Selbst, zwischen Positivem und Negativem sowie zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen erkannt, so dass Illusionen durchschaut werden. Denn nach buddhistischem Glauben sind alle Dinge außer Brahman flüchtig und vergänglich.

Doch Unterscheidungsvermögen ist nur eine von vielen Tugenden. So gelten z.B. auch Empfinden, Intuition und Eingebung als Wege zur Erkenntnis. Außerdem darf „Viveka“ nicht übertrieben werden, sonst kann es zum Laster werden und in Selbstgerechtigkeit, Gefühlskälte und Verurteilung ausarten. Daher braucht Unterscheidungsvermögen als Gegengewicht die Kultivierung von Liebe, Akzeptanz und Unvoreingenommenheit.

Intuitives Bauchgefühl

Wenn ich es recht bedenke, bediene ich mich in puncto Unterscheidungsvermögen sowieso immer auch meines Bauchgefühls. Besonders in Situationen, in denen jemand mehr Schein als Sein an den Tag legt. Mein Kopf mag die vielen schönen Worte erst einmal als positiv einordnen, doch mein Bauch sagt mir untrüglich, dass nicht alles so toll ist. Ich musste mir erst wieder angewöhnen, mehr auf meinen Bauch zu hören, doch seit ich weiß, wie „treffsicher“ seine Einschätzung ist, achte ich genau auf seine Signale.

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